Was ist eigentlich Einfühlungsvermögen?

Schon als Kind kriegt man seitens der Eltern oder anderer Bezugspersonen beigebracht, sich in andere Menschen einzufühlen. Haut man den Kindergartenkamerad, heißt es: „Wie würdest Du dich denn fühlen, wenn man dich haut?“ Man lernt also, von seinen eigenen – in diesem Fall angenommenen – Gefühlen auf die Gefühle des anderen zu schließen. Was man also genau genommen schon früh vermittelt bekommt, ist, davon auszugehen, dass andere Personen sich in einer bestimmten Situation genauso fühlen, wie man selbst in dieser Situation fühlen würde.

Hinzu kommt eine im Erwachsenenalter oft gehörte Annahme: „man kann sich nur in Situationen einfühlen, die man auch selbst erlebt hat“; daraus könnte man nun wiederum schließen, dass man sich nur dann in den anderen erfolgreich einfühlen kann, wenn man selber schon mal in einer ähnlichen Situation war und dann, wie als Kind gelernt, von sich auf den anderen schließt.

Aber handelt es sich dabei wirklich um echtes Einfühlungsvermögen? Gelingt so erfolgreiches Einfühlen?

In meinem Badmintonverein beobachtete ich folgende Situation: ein älterer Badmintonspieler auf dem Feld nebenan wurde von seinem Doppelpartner – meiner Wahrnehmung nach – recht barsch herumkommandiert und in einem Tonfall kritisiert, den ich persönlich so nicht hingenommen hätte. Er wiederum setzte sich nicht zu Wehr, sondern versuchte lediglich – meiner Wahrnehmung nach – den Anforderungen seines Spielpartners gerecht zu werden. Die Situation berührte mich in unangenehmer Weise, der Vereinskollege tat mir Leid; da ich mich selbst in dieser Situation sehr schlecht gefühlt hätte, schloss ich daraus, dass auch er dies als negatives Erlebnis abspeichern würde. Basierend auf dieser „Einfühlungleistung“ entschied ich mich, ihm rück zu melden, wie ich die Situation erlebt habe und dass es mir leidgetan hat, wie er in der Situation behandelt worden ist. Die Antwort kam prompt und überraschte mich: Er freue sich über meine Aufmerksamkeit für ihn, habe die Situation aber überhaupt nicht so empfunden.

Dieses Erlebnis beinhaltet für mich Verschiedenes: es sagt aus, dass ein und dieselbe Situation von unterschiedlichen Personen völlig unterschiedlich wahrgenommen werden kann. Der Badmintonkollege hat den Tonfall des Spielpartners möglicherweise überhaupt nicht als barsch und unangemessen empfunden und daher keine negativen Gefühle erlebt. Oder aber, er erlebte den Tonfall sogar durchaus als barsch, und trotzdem löste dieser nicht die gleichen Gefühle der Empörung wie bei mir in ihm aus, sondern er erlebte das Gesagte möglicherweise trotz des Tonfalls als hilfreiche, gerechtfertigte und angemessene Kritik, vielleicht z.B. – und das ist schlichtweg eine mögliche Hypothese – weil er es aufgrund von Kindheitserfahrungen gewohnt ist, das in einem solchen Tonfall mit ihm gesprochen wird und er dies als „normal“ empfindet.

Mir hat dieses Erlebnis gezeigt, dass Einfühlungsvermögen nicht (ausschließlich) darin besteht, von seinen eigenen Gefühlen auf die des anderen zu schließen, sondern die Kunst „echter“ Einfühlung vielleicht sogar eher darin besteht, in Betracht zu ziehen, dass sich jemand anderes in einer bestimmten Situation völlig anders fühlen könnte als man selbst. Einfühlungsvermögen bedeutet vielmehr, im ersten Schritt überhaupt in Betracht zu ziehen, dass der andere sich möglicherweise ganz anders fühlt, als ich das in der Situation tun würde oder schon mal getan habe. Und es bedeutet im zweiten Schritt, die Eigenschaften und die Persönlichkeit dieser ganz spezifischen anderen Person sowie ihre Lebenssituation und ihren Hintergrund mit einzubeziehen und darauf basierend eine Annahme zu treffen, wie die Person sich fühlen könnte – was dann schon ganz schön anspruchsvoll ist. Einfühlung ist also meiner Meinung nach nicht damit getan, „ich zu sein in der Situation des Anderen“ und mein „Ich-Sein“ dem anderen überzustülpen, sondern zu versuchen, „tatsächlich der andere zu sein“. Und für diese Form der Einfühlung ist es dann vielleicht gar nicht mehr so relevant, ob ich selbst diese Situation schon mal erlebt habe; denn mein Erleben hilft mir eben gerade nicht weiter oder leitet mich vielleicht sogar eher in die Irre bei dem Versuch, das Erleben des anderen zu erfassen.

Und ich denke, wie bei so vielem im Leben geht es letztendlich um ein „Sowohl-als-auch“: Bei aller Unterschiedlichkeit haben wir Menschen ja oft tatsächlich viel gemein; machen tatsächlich oft ähnliche Erfahrungen und freuen uns darüber, wenn wir entdecken, dass unser Gegenüber sich in einer bestimmten Situation tatsächlich ganz ähnlich gefühlt hat, wie wir selbst.

Vielleicht sollte man Einfühlung als Prozess zwischen zwei Menschen betrachten: zunächst – meine eigenen Erfahrungen nutzend – dem anderen einen „Einfühlungsversuch“ anzubieten, in Betracht ziehend, dass sich der andere jedoch ganz anders fühlen könnte und nach dessen Rückmeldung darüber ein stückweit versuchend, „der Andere zu sein“, um wirklich zu durchdringen, warum er fühlt, wie er fühlt.

Dies kann auch zu neuer Selbst(er)kenntnis führen, indem man sich bewusster wird, dass auch das eigene Empfinden sich, basierend auf den bisher in seinem Leben gemachten Erfahrungen, höchst subjektiv geformt hat und nicht „normaler“ ist als das des anderen.

Einfühlungsvernögen-1

2 Gedanken zu “Was ist eigentlich Einfühlungsvermögen?

  1. Einfühlungsvermögen (EFV):
    Ich denke, erlerntes EFV, vermittelt durch andere (soziale Kontrolle, Über Ich…), daher wohl in mehr oder weniger großem Ausmaß vorhanden, ist generell vom naturgegebenen zu differenzieren…
    Doch in welchem Ausmaß, und ob überhaupt, ist es naturgegeben existent…?
    Ist es z.B. EFV, wenn der Hund um den verstorbenen Herrn trauert..? Oder auch gwisse Verhaltensweisen von Affen, Primaten, ich gehe soweit…Bohnengewächse zu erwähnen, die sich …ohne Mensch zu sein… ihren Rankstab suchen….ich könnte noch weiter gehen…
    Die Definition (EF)“Vermögen“ deutet hingegen auf eine Fähigkeit hin, d.h. doch in einer gewissen Weise mehr oder weniger erlernbar oder willensabhängig…durch welche Erfahrungen oder Umstände auch immer,… was die Gesamtfrage allerdings nicht beantwortet…auch der Text schließt mit der Prämisse, eine möglichst optimale Synchronisation zur anderen Person und Verhaltensweisen zu entwickeln bzw. zu erreichen, um sich dem Begriff EFV anzunähern und damit seinem Gegenüber, vielleicht sogar seinem Selbst bzw. „unverbauten“ Selbst….wie können wir es wissen…
    Markus bin 56…

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